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Interview: „Eine etwas gewagte Interpretation“

Melanie Bergmann ist Polar- und Tiefseeforscherin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Seit 2012 beschäftigt sie sich intensiv mit der Verschmutzung der Meere mit Kunststoffen, hat dazu umfangreich publiziert und unter anderem das Fachbuch „Marine Anthropogenic Litter“ herausgegeben. Darüber hinaus ist Frau Bergmann Mitglied in mehreren Expert/innengruppen – inklusive der deutschen Delegation zur Verhandlung des UN Plastics Treaty – und koordiniert die internationalen MICRO-Symposien zu Mikroplastik mit. Sie arbeitet am AWI mit an der Entwicklung neuer Methoden zur Messung von Plastikmüll und Mikroplastik in den Meeren sowie an Untersuchungen zu Auswirkungen von Kunststoffresten auf Organsimen. Vor diesem fachlichen Hintergrund haben wir Frau Bergmann zu ihrer Einschätzung der Ergebnisse der Studie des Thünen-Instituts für Fischereiökologie befragt (s. dazu den Bericht „Mikroplastik schädigt Fische nicht“).

 

Frau Bergmann, in unserem Newsletter berichten wir über die Ergebnisse der Studie des Thünen-Instituts, die in gewisser Weise Entwarnung gibt: Demnach scheint – verkürzt gesagt – Mikroplastik die Gesundheit von Fischen nicht zu beeinträchtigen und würde infolgedessen auch kein Gesundheitsrisiko für Menschen, die die Fische verzehren, darstellen. Haben Sie die Ergebnisse überrascht?

 

An den Ergebnissen der Studie zum Einfluss von Mikroplastik auf Stichlinge selbst hege ich keine Zweifel, sie ist fachlich begutachtet und in einer guten Fachzeitschrift veröffentlicht worden. Aber die Interpretation, dass die Labor-Ergebnisse dieser einen Studie auf andere Fischarten beziehungsweise Wirbeltiere als Ganzes inklusive den Menschen übertragbar wären, sind für mich und viele Kolleg:innen überraschend.

 

Nach Ergebnissen einer Studie des AWI im Auftrag der Umweltorganisation WWF haben Sie an 90 Prozent der untersuchten Meerestiere Auswirkungen festgestellt, die Sie als „besorgniserregend“ bezeichnet haben. Können Sie Näheres zu diesen Auswirkungen sagen?

 

In unserer Übersichtsstudie1) haben wir das bis 2019 verfügbare Wissen aus Hunderten solcher Einzel-Studien zusammengefasst. Dies ergab, dass mindestens 2.144 marine Arten in ihrer natürlichen Umwelt mit Plastikverschmutzung konfrontiert sind. Die überwiegende Mehrheit dieser Wechselwirkungen betrifft Verzehr, Verfangen oder das Abschneiden von der Versorgung mit Sauerstoff, Licht oder Nahrung durch Bedeckung. Ob Wechselwirkungen mit Plastik Schäden verursachen, wurde für 297 Arten untersucht, von denen 88 Prozent nachteilige Effekte aufwiesen, davon 112 Fischarten. Ein Beispiel wären Felsenbarsche, die weniger gefressen haben, sie sind weniger geschwommen, waren in ihrer Bewegung eingeschränkt. Die Fische sind weniger gewachsen und hatten geringere Energiereserven. In einer Studie aus Argentinien hatten alle untersuchten Fischarten Mikroplastik verzehrt und weniger Energiereserven in ihrer Leber. Und in einer weiteren Studie wurden zum Beispiel bei Glasbarschen geringere Wachstumsraten durch Mikroplastik nachgewiesen. Mikroplastikbestandteile aus Autoreifen erwiesen sich in einer Studie2) als hochgiftig für nordamerikanische Lachse und erklärten das dort häufig beobachtete Lachssterben nach starken Regengüssen.

In einer AWI-Studie3), wurde Mikroplastik sogar im Filet vom Wolfsbarsch gefunden. So kann es vom Menschen aufgenommen werden. Kürzlich wurde auch Mikroplastik in menschlichen Lungen4), Blut5), Plazenta6), Mekonium7) und in Brustmilch8) nachgewiesen mit unbekannten Folgen für die menschliche Entwicklung. Man hat Entzündungsreaktionen bei bestimmten Blutzellen9) nachgewiesen ebenso wie einen Zusammenhang mit entzündlichen Darmerkrankungen10). Es gibt also sehr wohl bereits Hinweise auf negative Folgen für den Menschen. Von dem Einfluss der über 10.000 Plastik-Chemikalien sprechen wir da noch gar nicht.

 

Wie würden Sie die Ergebnisse des Thünen-Instituts im Rahmen der Forschungen zu Auswirkungen von Mikroplastik auf Meereslebewesen einordnen und wo sehen Sie zu diesem Themenkreis den dringendsten Forschungsbedarf?

 

In der Studie wurde mit dem Stichling nur eine einzelne Fischart untersucht und auch nur eine von sehr vielen Kunststoffarten und -formen, nämlich Mikrofasern und das nur über einen begrenzten Zeitraum. Dies nun auf alle Fische in der Nord- und Ostsee oder gar alle Wirbeltiere zu übertragen, ist eine etwas gewagte Interpretation im Kontext der vielen erwähnten anderen Studien.

Wir wissen noch viel zu wenig darüber, wie sich Mikroplastik auf die Tiere am Meeresboden auswirkt. Das ist eine enorme Wissenslücke, wenn man bedenkt, dass die Tiefsee 60 Prozent der Erdoberfläche bedeckt und viele Studien schlussfolgern, dass sich Plastik dort besonders anreichert. In der Arktis haben wir über 13.000 Mikroplastikpartikel pro Kilogramm Sediment11) gefunden. Es ist sehr unbefriedigend, dass wir nichts über die Folgen sagen können. Dennoch reicht der Forschungsstand bereits aus, um zu sagen, dass Plastik sich inzwischen überall wiederfindet und wir die Produktion von neuen Kunststoffen drosseln müssen, um das Problem nicht zu verschlimmern. Denn das Plastik, das bereits jetzt in der Umwelt ist, zerfällt mit der Zeit in Mikroplastik, welches wir – mit all seinen Chemikalien – nicht mehr herausbekommen.

 

(November 2022)

 

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1)  https://zenodo.org/record/5898684#.YjRGUzUxl6X

2)  http://science.sciencemag.org/content/early/2020/12/02/science.abd6951.abstract

3)  http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0025326X20303283

4)  https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2022.154907

5)  https://doi.org/10.1016/j.envint.2022.107199

6)  https://doi.org/10.1016/j.envint.2020.106274

7)  https://www.mdpi.com/1999-4923/13/7/921

8)  https://www.mdpi.com/2073-4360/14/13/2700

9)  https://doi.org/10.1016/j.envint.2022.107173

10) https://doi.org/10.1021/acs.est.1c03924

11) https://doi.org/10.1021/acs.est.9b06981

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